Glaubenszeugnisse

Du bist, wenn es ums Ganze geht, nicht allein. Wenn dir die Luft ausgeht, wirst du von anderen ins Leben hineingeatmet.

Der kath. Theologe und Diakon Ludger Verst erzählt von seinem Kampf gegen das Coronavirus

Meine Familie hatte das Auf und Ab der Fieberkurven vier Tage schon mit angesehen: „Du gehörst ins Krankenhaus.“ © afp Meine Familie hatte das Auf und Ab der Fieberkurven vier Tage schon mit angesehen: „Du gehörst ins Krankenhaus.“ © afp Wie spät mag es sein…? Vielleicht Neun oder Zehn am Morgen. An der Haustür höre ich Geräusche. Ich lausche. Jemand öffnet die Tür. Eine weiße Gestalt — ein Astronaut? — steht in meinem Schlafzimmer: Overall, Helm, Koffer, Handschuhe. Er fragt nach meinem Namen, wie es mir gehe.

Seit Tagen und Nächten hatte ich mich mit Fieber herumgeschlagen, hohem Fieber, das ich mir nicht erklären konnte. Da war diese Frühjahrsallergie. Ich kenne das: Anfang, Mitte März kommen die Frühblüher. Sie bringen den Heuschnupfen: brennende Augen, Niesanfälle und manchmal Husten. In diesem Jahr war alles schlimmer, vor allem dieser trockene, asthmatische Husten, der kein Ende nahm. Wenn doch nicht das Fieber wäre…

Meine Familie hatte das Auf und Ab der Fieberkurven vier Tage schon mit angesehen: „Du gehörst ins Krankenhaus.“ Beim letzten Arzttermin hatte man mir „für den Ernstfall“ schon einen Überweisungsschein mitgegeben. Coronavirus 2019-n-Cov stand darauf. Jetzt ist der Sanitäter da, und jetzt ist Schluss.

„Die Tests haben ergeben, dass Sie mit dem Corona-Virus infiziert sind“

Schon auf der Zufahrt zur Klinik empfangen uns ein Arzt und ein Pfleger. Vermummt schauen sie auf mich wie auf einen gefährlichen Mann. Sie nehmen Proben und Messungen vor. Dann die Aufnahme-Erlaubnis: Von meinem Astronauten gestützt schleppe ich mich zum Aufzug. Mit einer Rollliege geht es weiter auf die Isolierstation.

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Isolierstation ist kein schönes Wort. Weniger noch ein schöner Ort. Ich fühle mich abgeschoben.

Ich huste. Niemand kommt.

Ich schaue aufs Handy: „Lieber Ludger, alles Gute zum Namenstag!“, schreibt eine Freundin, die wie ich katholisch ist. „Möge der heilige Ludgerus gerade in diesen Zeiten seine schützende Hand über dich halten (smiley).“ — Tja, Namenspatron, was ist mit dir? Wo steckst du? Bist wohl doch eher tot als lebendig.

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Gegenüber der Heiligenverehrung hat die Computertomografie den Vorteil, dass sie unverfälscht darstellt, was organisch vor sich geht. Klarheit solcher Art tut jetzt not. So werde ich im Stationsbett zur Lungen-CT geschoben.

Es ist immer gut, wenn Licht ins Dunkel kommt. Und doch ahne ich nichts Böses, als anderntags der Chefarzt ans Bett herantritt. Freundlich nimmt er Anlauf: „Die Tests haben ergeben, dass Sie mit dem Corona-Virus infiziert sind.“

Wie dieses Wort aus seinem Munde klingt…! — So ultimativ, so unwiderruflich … — ganz anders als in den Nachrichten und Sondersendungen, die ich gesehen hatte.

Dass  mich  das Virus treffen könnte, das hatte ich ganz sicher ausgeschlossen. Und jetzt war es da. Wie hereingeflogen durch die Tür. — Die Seuche hatte  mich  erwischt.

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Zum Glück verlässt der Arzt mein Zimmer bald. Ich will allein sein mit meinen Tränen. Rufe meine Frau an. Beginne meinen Satz… — sie hört, sie weiß längst, was passiert ist —, bevor ich ihn zu Ende spreche. Wir weinen. Und schweigen. Und ringen mit Worten. Nie habe ich mich einem Menschen näher gefühlt als in diesem Augenblick.

Die Ärzte beschließen, mich auf die Intensivstation zu verlegen. Zunächst wohl nur für einen Tag, heißt es. Ein Bett und ein Beatmungsgerät seien gerade frei.

Noch am selben Abend erwartet mich helle, laute Betriebsamkeit. Menschen mit Mund-Nase-Masken, Menschen mit Helmen und Schutzanzügen um mich herum. Stiche links, dann rechts, um eine Arterie für die Blutgasanalyse zu finden, Infusionsschläuche, ein Pulsoxymeter und EKG-Kabel, die hinter mir zu Monitoren führen. Alles wird eingerichtet für meinen Aufenthalt.

Für einen Tag, hatten sie gesagt.

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Die nicht-invasive Beatmung hat gegenüber der invasiven den Vorteil, durch Überdruckbeatmung mittels einer Maske Luft in die Lunge geführt zu bekommen, ohne dass eine Intubation oder ein Luftröhrenschnitt erforderlich ist. Trotz aller Vorsicht können Intubationen immer wieder zu Schäden an Kehlkopf und Stimmbändern führen. Ich habe also Glück: Ein, zwei Tage später wäre eine Behandlung mit Tubus unumgänglich gewesen.

Jetzt also Beatmung — ohne Ende. Zehn, zwölf Stunden am Stück. Ich sträube mich gegen diese viel zu eng sitzende Gesichtsmaske mit den stramm gezogenen Gurten am Kopf. Sie spendet zwar Sauerstoff, nimmt mir aber die Luft beim Husten. Ich quäle mich von Stunde zu Stunde, und wenn ich nicht schlafen kann, schaue ich auf die große Uhr über der Tür: Wieder nur sind erst zehn Minuten vergangen.

Das Coronavirus - Ein unsichtbarer Gegner

Wie soll ich diese langen Strecken schaffen? Die Langstreckenläufe, an die ich mich erinnern kann, liegen lange zurück. In den 1980ern bin ich gern 10 000 Meter gelaufen. Bei Wettkämpfen konnte ich mir meine Kraft und meine Luft gut einteilen. Hier kann ich mir nichts einteilen. Und auch meine Bestzeiten nicht verbessern. Im Gegenteil, je länger ich liege und je mehr ich hoffe und atme, desto frustrierender das Ergebnis: In der Lunge zeigen sich ausgedehnte, teils milchglasartige, teils flächig dichte Infiltrate, die meine Atemnot und einen hochgradigen Sauerstoffmangel im Blut verursachen. Mein Zustand verschlechtert sich zusehends.

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Dieses Virus ist ein unsichtbarer, nicht fassbarer Gegner. Und ich erlebe nun, wie es meinen Körper sabotiert. Es frisst sich in die Lunge und verklebt ihr die Flügel. Tief einzuatmen gelingt mir nicht mehr. Immer öfter röhrender, blutiger Husten. Auch das Fieber steigt wieder. Und unter der Maske zerspringt mir der Schädel.

Ich drücke den Alarmknopf. Niemand kommt. Warum dauert immer alles so lange?

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Es dauert zwei, vielleicht auch drei Tage, und man funktioniert als Teil eines eingeschliffenen intensivmedizinischen Versorgungssystems. Gäbe es kein Fenster zur Außenwelt, sie würde als reale Welt Stück für Stück aus dem Blick geraten. Durch die mit Putzmitteln stumpf gescheuerte Scheibe scheint zwar die Sonne und ich sehe die An- und Abfahrten von Rettungs- und Lieferwagen — ja, es gibt ein Leben jenseits der Isolation! —, aber was mich bewegt und lebendig hält, verlagert sich nach innen, formt eine Welt aus Angst. Und Schmerz. Und aus Bedürftigkeit.

Eines Morgens, halb im Schlaf, halb noch im Fieber, träume ich, dass mir der Atem stockt, dass er mir ausgeht, es nicht mehr weitergeht. Und keiner mich hört bei diesen letzten Versuchen. „Do you hear me?“ — Hörst du mich?“, sende ich meiner Frau eine Nachricht aufs Handy.

Aus dem Krankenbett heraus schreibe ich einen Text in hörbarer Nähe zu einem Song von Imagine Dragons, der in der Stunde meines geträumten Todes mir Worte leiht für meine Not. Die Not, es aus eigener Kraft nicht mehr zu schaffen: „Maybe if I fall asleep, I won’t breathe right / Can nobody hear me? / I’ve got a lot that’s on my mind / I cannot breathe / Can you hear it, too?“

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Ja, jemand hatte meinen stummen Schrei gehört. Weil die Blutgaswerte schlecht bleiben und ich in meiner Niedergeschlagenheit zwar noch atmen, aber nicht mehr kämpfen will, organisiert meine Frau ein Bündnis fürs Atmen. Unsere Familie, unsere Freunde, Kollegen und Nachbarn, alle, die sich in Anrufen, über SMS oder Whats-App nach meinem Zustand erkundigen, werden um ihr solidarisches Mitatmen gebeten: „Breathe in … breathe out!“ —„Atmet für Ludger!“ — Aus einer symbolischen Aktion erwächst ein gemeinsamer Atem, ein Rückenwind, der mich aus einem tagelang drohenden Stillstand ins Leben zurückträgt, mir den Willen zum Selberatmen wiederschenkt.

Die wichtigste Erfahrung aus dem Kampf gegen das Coronavirus

Vielleicht ist dies die wichtigste, die nachhaltigste Erfahrung aus meinem Kampf gegen das Coronavirus: Du bist, wenn es ums Ganze geht, nicht allein. Wenn dir die Luft ausgeht, wirst du von anderen ins Leben hineingeatmet, „in-spiriert“. Atmen und Inspiriert-Werden gehören zusammen, zunächst organisch, dann auch logisch.

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Drei Tage später erhält meine Frau einen Anruf aus dem Krankenhaus; man könne ihr mitteilen, dass ihr Mann „aus der Lebensgefahrzone heraus“ sei. Aufatmen und Erleichterung… für sie, für mich, so viele.

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Weitere sechs Tage und sechs Nächte bleibe ich noch auf der Intensivstation. Was die Sauerstoffwerte betrifft, sind meine Fortschritte unverkennbar, aber auch schwankend. Zum Glück gibt es nun eine deutlich komfortablere Atemmaske, die nicht mehr mein ganzes Gesicht umschließt, sondern nur noch Mund und Nase abdeckt. Das erleichtert mir die Atemarbeit erheblich, sodass ich die Zeiträume für die Ventilation aus eigenem Antrieb ausdehne.

Atemzug um Atemzug erobere ich mir mein Leben zurück.

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Dann – nach elf Tagen und elf langen Nächten: Ich darf die Intensivstation verlassen — mit der Aussicht auf baldige Entlassung. Mich erfüllt das Gefühl einer glücklich überstandenen Nachtmeerfahrt, aus deren tiefstem Dunkel ich als ein Anderer, als ein Veränderter hervorgehe. Den Begriff der Nachtmeerfahrt kenne ich aus der Psychologie Carl Gustav Jungs. Er besagt, dass Menschen einen tiefgreifenden Bewusstwerdungs- und Wandlungsprozess durchlaufen, bei dem sie durch das Bestehen schrecklicher und gefährlicher Situationen zu einem reiferen und vollständigeren Leben gelangen.

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Mein erfolgreicher Kampf gegen das Coronavirus lässt mich auch drei Wochen nach der Entlassung aus der Klinik nicht heroisierend auf das Durchlittene schauen. Die physische Bedrohung, die von dem Virus ausgeht, nimmt jeden Spielraum für eine Glorifizierung des Erlebten — auch mit Blick auf jene Menschen, die im Augenblick mit dem Virus ringen oder vielleicht morgen schon dagegen werden kämpfen müssen.

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Selbst wenn es zur vollständigen Genesung noch Zeit braucht: Mein Leben fühlt sich schon jetzt frischer und intensiver an. Ich erlebe eine neue Wertschätzung für Körperliches und für Genuss. Ich esse weniger und langsamer, aber deutlich qualitätvoller. Wahrscheinlich werde ich nicht weniger arbeiten, meine Arbeit aber anders einteilen. Ich werde Zeit haben für Menschen, die mir wichtig sind. Aus der Erfahrung, wie gefährdet und verletzlich, wie flüchtig ein Leben, mein Leben ist, erwächst auch eine neue Wachheit für das Schöne, für eine Dimension der Tiefe.

„In der Tiefe ist Wahrheit“, habe ich einmal von dem großartigen Theologen Paul Tillich gelernt. Diese Tiefe zeigt sich in der Intensität meines neuen Lebens. Ich verdanke sie den Ärzten und Pflegekräften. Ich verdanke sie vor allem denen, die mich in den Untiefen der letzten Wochen in einzigartiger Weise inspiriert haben.